Jesus kommt und Altes vergeht

Unser heutiger Sonntag trägt zwei Überschriften: Nach dem Kirchenjahr heißt dieser Sonntag „Rogate – Betet!“, und seit 1890 wird der 1. Mai als „Weltfeiertag“ der Arbeit begangen.

Wie passt das zusammen: Gebet und Arbeit?

Der Wahlspruch der Benediktinermönche – ein altes lateinisches Sprichwort lautet: „Ora et labora – Bete und arbeite!“ und von Martin Luther stammt der Satz: „Bete, als ob alles Arbeiten nichts nützt und arbeite, als ob alles Beten nichts nützt.

Das Eine lässt sich also nicht gegen das Andere ausspielen. Beides hat seinen Wert und seinen Platz, und das Eine ist auch durch das Andere nicht zu ersetzen.

Kann es sein, dass hier die wirklichen Ursachen für unsere derzeitige wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise liegen, dass wir etwas auseinander gerissen haben, was nicht nur für die alten Mönche und Luther, sondern auch nach dem Zeugnis der Bibel zusammengehört: das Gebet und die Arbeit, der Sonntag und der Alltag, Glaube eben ganzheitlich in Gemeinde und Schule, im Hauskreis und auf der Arbeit? Wir beten in der Regel am Sonntag und arbeiten den Rest der Woche ohne Gott!

Wo es in Politik und Gesellschaft, in Wirtschaft und Schule allerdings gottlos zugeht und der Mensch sich somit selbst an die Stelle Gottes setzt, wird auch das Miteinander der Menschen immer mehr von rein materialistischen Erwägungen geprägt, von Gewinn und Verlust. Der Wert des Menschen wird nicht mehr durch die Ebenbildlichkeit Gottes definiert, sondern durch seine Leistung und die Kosten, die er verursacht. Die ethischen Folgen eines solchen materialistischen Denkens sind fatal und betreffen in aller Regel immer die Schwächsten der Gesellschaft!

Wie Gebet und Arbeit, Glaube und Geld in der Bibel zusammenhängen, wird nicht nur an dieser Geschichte deutlich, Markus 11, Vers 12 bis 21 (Einheitsübersetzung): Als sie am nächsten Tag Betanien verließen, hatte er Hunger. Da sah er von weitem einen Feigenbaum mit Blättern und ging hin, um nach Früchten zu suchen. Aber er fand an dem Baum nichts als Blätter; denn es war nicht die Zeit der Feigenernte. Da sagte er zu ihm: In Ewigkeit soll niemand mehr eine Frucht von dir essen. Und seine Jünger hörten es.

Dann kamen sie nach Jerusalem. Jesus ging in den Tempel und begann, die Händler und Käufer aus dem Tempel hinauszutreiben; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und ließ nicht zu, daß jemand irgend etwas durch den Tempelbezirk trug. Er belehrte sie und sagte: Heißt es nicht in der Schrift: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker sein? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht. Die Hohenpriester und die Schriftgelehrten hörten davon und suchten nach einer Möglichkeit, ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil alle Leute von seiner Lehre sehr beeindruckt waren. Als es Abend wurde, verließ Jesus mit seinen Jüngern die Stadt.

Als sie am nächsten Morgen an dem Feigenbaum vorbeikamen, sahen sie, daß er bis zu den Wurzeln verdorrt war. Da erinnerte sich Petrus und sagte zu Jesus: Rabbi, sieh doch, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt.

Dies ist auf den ersten Blick ein ärgerlicher Text. Was kann der Feigenbaum dafür, dass er keine Frucht bringt, und weshalb muss Jesus ihn deshalb gleich liquidieren?

Und dann die Sache mit dem Tempel. Weshalb benimmt sich Jesus hier wie ein „Elefant im Porzellanladen“ und mischt sich so radikal in das äußerst attraktive und gerade auch durch den Tourismus florierende Tempelgeschäft ein? Weshalb belässt er es nicht bei ermahnenden Worten und greift nach Johannes sofort zur Peitsche?

Hier haben wir es auf den zweiten Blick auch mit einem scheinbar ganz anderen Jesus zu tun.

Statt heilsamer Worte hören wir hier nur ein machtvolles Fluchwort, statt heilsamer Taten erleben wir ihn hier als Rausschmeißer. Wo bleibt da die Liebe? Wie passt dieser Jesus zum Rest des neuen Testamentes? Darf sich der Gottessohn und Menschenfreund so zornig zeigen?

Auf den dritten Blick haben wir es auch mit einem schwierigen Text zu tun.

Alle vier Evangelisten berichten zwar übereinstimmend von der Tempelreinigung. Allerdings verlegt Johannes (2, Vers 13 bis 16) diese Geschichte an den Anfang der Wirksamkeit Jesu, gleich nachdem er in Kana Wasser zu Wein machte.

Lukas (19, Vers 45 bis 48) berichtet zwar auch von der Tempelreinigung nach dem triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Allerdings lässt er Jesus vorher noch über Jerusalem weinen und erzählt die Geschichte von dem Feigenbaum als ein barmherziges Gleichnis (13, Vers 6 bis 9) über die Geduld Gottes.

Lediglich Matthäus und Markus berichten fast übereinstimmend über die Sache mit dem Feigenbaum und der Tempelreinigung. Doch Markus lässt Jesus erst am Montag in den Tempel gehen und umrahmt diese Geschichte mit dem Feigenbaum.

Im Kern berichten also alle dasselbe, doch jeder der Vier aus seiner ganz eigenen und persönlichen Sicht. Gerade diese unterschiedliche Berichterstattung der Zeugen bürgt für die Wahrheit, auch wenn damit für uns eine Menge Fragen offen bleiben, die aber eher für Theologen interessant sein dürften und an der Quintessenz dieser Geschichte nichts ändern!

Für Markus (Apostelgeschichte 12, Vers 12) gehören die beiden Geschichten vom Feigenbaum und von der Tempelreinigung wie die zwei Seiten einer Münze zusammen. Da ist dieses Strafwunder und Fluchwort auf der einen Seite, und da ist der Rausschmiss aus dem Tempel und die Zweckbeschreibung eines Gotteshauses auf der anderen Seite.

In Palästina trägt der Feigenbaum dreimal jährlich Früchte. Die erste Ernte aus Blütenanlagen des Vorjahres ist bereits im Frühling. Wenn im April die Endknospen der Zweige die neuen Jahrestriebe formen und dort die ersten Blätter sprießen, sitzen unter diesen Trieben kleine junge Feigen, die sogenannten Vorfeigen (paggim). Sie zeigen an, daß der Winter vorbei ist (Hoheslied 2, Vers 13: Am Feigenbaum reifen die ersten Früchte; die blühenden Reben duften). Sie sind nicht saftig, werden aber trotzdem gegessen. Wo sie fehlen, ist der Baum unfruchtbar; darum verfluchte Jesus den Feigenbaum, dessen Blätterkleid Fruchtbarkeit nur vortäuschte.

Der Feigenbaum wird als Obstbaum oft mit dem Weinstock und Ölbaum zusammen aufgezählt. ... Das »Wohnen unter dem Weinstock und Feigenbaum« ist Bild des Lebens in gesichertem Frieden (1Kön5,5; 2Kön18,31; Mi4,4; Sach3,10). Der Feigenbaum gehört zu den sieben Segnungen, die den Reichtum des verheißenen Landes darstellen (5Mo8,8).

© Lexikon zur Bibel

Ein Feigenbaum voller Blätter, aber ohne Frucht und ein Tempel voller Geschäftigkeit, aber ohne Leben. So wie Jesus Feigen an dem Baum erwartete, so erwartete Gott von seinem Volk ein Leben in Heiligkeit und Hingabe.

Indem Jesus einerseits den Feigenbaum verflucht und andererseits im Tempel aufräumt, vollzieht er zweimal symbolhaft das Gericht am Volk Gottes. Mit diesen massiven Zeichenhandlungen stellt sich Jesus in eine Reihe mit den Propheten des Alten Testamentes, die ähnlich massiv durch ihre Zeichenhandlungen für klare Worte sorgten.

Der Tempel hatte zur Zeit Jesu eine grosse Bedeutung für Jerusalem und die Juden. Er war nicht nur ihr religiöses und kultisches Zentrum, er war eine Institution, die aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben nicht wegzudenken war.

Was wäre Köln ohne den Kölner Dom? Dieselbe Rolle spielte der Tempel damals für Jerusalem!

Der Tempel war nicht nur ein eindrückliches Bauwerk mit vielen Nebengebäuden. Zu ihm gehörte ein Heer von Tempelbeamten, von den Hohenpriestern und Priestern bis hinab zu den Türhütern, Wächtern, Aufräumern und Putzmännern. Der Tempel war ein bedeutender Wirtschafts- und Tourismusfaktor, ein regelrechtes Unternehmen. Viele Leute lebten vom Tempeldienst und den zahllosen Einrichtungen und Geschäften, die dazu gehörten. Im Tempelbezirk durfte nur in jüdischer Währung, nicht etwa mit römischem Geld, bezahlt werden. Namentlich zu den hohen Festen pilgerten Juden aus aller Herren Länder nach Jerusalem. Wer ein Opfertier kaufen und schlachten lassen wollte, musste sein mitgebrachtes Geld in den Wechselstuben im Vorhof umtauschen. Wer es sich leisten konnte, opferte ein Lamm. Die armen Leute durften es bei einem Paar Tauben bewenden lassen. Ein Opfer bringen mussten auch sie. Dabei machten die Händler und Geldwechsler ihre Profite, auch mit dem Geld der kleinen, armen Leute. Zudem mussten sie der Tempelbehörde für ihr Geschäft Konzessionsgebühren bezahlen. Außerdem waren Tempelsteuern zu entrichten. Begüterten wurde nahegelegt, bei einem Erbgang den Tempel zu berücksichtigen. Und schließlich wurde von den Gläubigen erwartet, dass sie durch eine Spende in den Opferkasten ihren Beitrag an den Betrieb des Tempels leisteten.

Nicht die Liebe zu Gott war der Antrieb des Glaubens, sondern man bezahlte Gott. Man kaufte sich buchstäblich frei. Der Geldgott Mammon regierte im Tempel von Jerusalem.

Man denke bloß nicht, diese Verbindung und Vermischung von Religion und Geschäft sei typisch jüdisch. Kaum eine religiöse Institution, die im Zentrum der gesellschaftlichen Macht steht und den Leuten Vorschriften machen kann, wie sie ihre Frömmigkeit und ihren Glauben zum Ausdruck bringen sollen, entgeht der Versuchung, mit der Religion ein Geschäft zu machen, die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen auszunutzen. Die christliche Kirche liefert in ihrer Geschichte Beispiele genug.

„Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ So prangerte Luther z.B. den Ablasshandel seiner Zeit an.

Glaube kann etwas Falsches, Verkehrtes, Unfruchtbares und Unnützes sein. Die seltsame Episode mit dem Feigenbaum, den Jesus auf immer verdorren und absterben lässt, weil er keine Frucht bringt – nichts als Blätter –, ist ein Gleichnis dafür. Nichts als schöner Schein, äußerliche Pracht- und Machtentfaltung, nichts als Betriebsamkeit, Geschäftigkeit und Wichtigtuerei, nichts als ehrwürdige Institutionen, Rituale und Kunstdenkmäler, aber nichts, was den Hunger der Menschen stillen und ihre Gebrechen heilen könnte.

Dass, was Jesus hier in zweifacher Form lediglich zeichenhaft und symbolisch andeutete, geschieht buchstäblich 70 nach Christus als der Tempel von den Römern dem Erdboden gleichgemacht wird und damit der gesamte jüdische Opferritus bis auf den heutigen Tag zum Erliegen kommt.

In unseren Versen geht es um Schein und Sein. Der lebendige Gott gibt sich nicht mit unserem äußeren Glanz zufrieden, ihm geht es um unser ganzes Leben, nicht nur um den Sonntag des Glaubens, sondern eben und gerade auch um den Alltag des Lebens.

Wenn wir uns diesen Versen so nähern, erscheinen sie geradezu erdrückend: Wie Eltern von ihren Kindern Gehorsam erwarten, Lehrer von ihren Schülern Mitarbeit, Arbeitgeber von ihren Angestellten Einsatz, so erwartet Gott Frucht von uns.

Die Sache mit dem Feigenbaum erinnert an viele andere biblische Texte, an Gerichtstexte wie Jesaja 5 – die Rede über den Weinberg Gottes – oder an die Sendschreiben der Offenbarung – Jesus beurteilt seine Gemeinden - oder auch an die Bildrede Jesu aus Johannes 15 - die Rede vom Weinstock - oder Galater 5 - die Rede von der Frucht des Geistes.

Jesus stellt sich hier der Selbstüberschätzung des frommen Menschen entgegen, der seine Erwartungen an Gott um Segen und Vergebung durch die entsprechende Bezahlung eines Opfers abstattet, und formuliert stattdessen deutlich die Erwartungen Gottes an uns.

Gott erwartet Frucht von seinen Kindern, von Israel damals und von den Christen und damit heute von uns. Nicht das, was wir von einer Gemeinde erwarten ist entscheidend, sondern was Gott von uns erwartet, ist alles entscheidend. Und Gott erwartet, dass sich in unserem Leben die Auswirkungen unserer Gottesbeziehung niederschlagen, in unserem Denken und Reden, in unserem Handeln und Sein, in unserem Umgang miteinander, mit dem Geld und mit der Arbeit. Es geht um ganzheitlichen Gottesdienst: Ora et labora - Bete und arbeite! Es geht um den Sonntag des Glaubens und den Alltag des Lebens. Unser ganzes Leben, schreibt Paulus in Römer 12, soll ein Gottesdienst sein. Eben nicht nur die eine Stunde an diesem Sonntagmorgen, sondern jede Stunde an jedem Tag, an jedem Ort. Das ist die Erwartung Gottes an unser Leben, oder wie es an anderer Stelle einmal heißt, 1. Petrus 1, Vers 16 (Gute Nachricht): Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.

Als Christen tragen wir ein Deo der ganz besonderen Art, das nicht nur 24 Stunden halten soll, sondern lebenslang und überall. Gott hat die Erwartung an uns, dass wir ein Wohlgeruch Christi sind. Christen sollen nicht an ihrem Stänkern und Nörgeln, an ihrem Kritisieren, sondern an der Hoffnung und der Ermutigung erkennbar sein, 2. Korinther 2, Vers 15 (Einheitsübersetzung): Denn wir sind Christi Wohlgeruch!

Nun können wir dies negativ und erdrückend empfinden und dementsprechend auch mit Abwehr auf den frommen Druck reagieren.

Manchmal brauchen wir aber auch gerade so ein Erschrecken über den heiligen Gott, damit wir wirklich begreifen: Beim christlichen Glauben geht es nicht um den Spaßfaktor und die Frage, ob wir uns wohlfühlen, sondern es geht buchstäblich um meine radikale Hingabe an Christus, an meine Brüder und Schwestern und auch an die Welt. Dem äußeren und funktionierenden Geschäftsbetrieb des Tempels stellt Jesus den Beziehungssatz gegenüber: „Mein Haus soll ein Bethaus sein!“ Das ist Gottes Erwartung an uns! Wir sollen in einer betenden Beziehung leben.

Wenn wir die Teenies nach ihren Erwartungen befragen, würden sie sicherlich sagen: „Superkurze Predigten, englische Lieder und viel Abwechslung im Gottesdienst.“

Wenn wir die Älteren fragen, würden sie vielleicht sagen: „Keine englischen Lieder, wenig Rahmenprogramm, anständige Predigten und ordentliche Kleidung.“

Diese völlig entgegengesetzten Erwartungen kann kein Gottesdienst und keine Gemeinde erfüllen. Sicherlich haben wir auf die verschiedenen Bedürfnisse der unterschiedlichsten Gemeindegruppen zu achten. Aber in erster Linie muß es uns um die Erwartung Gottes an uns gehen! Und Gott erwartet, dass unser Haus, dass wir als Gemeinde aus unterschiedlichen Generationen, sozialen Schichten und sogar verschiedenen Nationen eine betende Gemeinschaft sind!

Es geht nicht um die schönen Blätter, den äußeren Schein, um die Betriebsamkeit, sondern um die Frucht, um die Nachfolge Christi, um unsere Christusbeziehung eben.

Letztlich ist dies eine gute Nachricht!

Denn Gott erwartet von uns keine übermenschlichen Leistungen, keine Opfer, keine Versprechen, von jetzt an alle Zehn Gebote und das auch noch im Sinne der verschärften Bergpredigt einzuhalten, sondern Gott erwartet von uns lediglich das eine, dass wir leben, was wir sind: Kinder Gottes! Ein skandinavisches Möbelhaus wirbt mit dem Slogan: „Entdecke die Möglichkeiten!“ Genau darum geht es, dass wir die Möglichkeiten leben, die Gott in uns hineingelegt hat, in jeden von uns, egal wie alt oder jung wir sind, dass wir leben, was wir sind, nicht mehr und nicht weniger: als Kinder Gottes und in der Kraft des Heiligen Geistes!

Dass wir Christus einladen und hineinnehmen in unsere alltäglichen Beziehungen, in unsere Ehen und Familien, in Schule und Beruf, in unseren Umgang mit dem Geld und unsere Freizeitgestaltung, dass wir eben betend leben und unser Leben ein Gebet wird, dass wir die Frage verneinen: „Was bringt mir das?“ und mit der Frage leben lernen: „Was erwartet Gott von mir in dieser Situation?“



Krefeld, den 1. Mai 2005
Pastor Siegfried Ochs



Anmerkungen, Fragen und Kritik an: