Einheit, Freiheit, Kindheit

Schön, dass Sie es geschafft haben, heute morgen hier zum Gottesdienst zu kommen. Seitdem die Oelschlägerstraße zur Baustelle geworden ist, ist das ja gar nicht so einfach bis hierhin zu kommen. Während der Woche kann es einem durchaus passieren, dass man mit seinem Auto nicht mehr durchkommt, weil gerade ein Bagger mitten auf der Straße steht.

Die Jungs von den Stadtwerken arbeiten an den Versorgungsleitungen. Dabei müssen sie natürlich aufpassen, dass sie die einzelnen Leitungen fein säuberlich voneinander unterscheiden und die Wasserleitung nicht mit dem Stromkabel verwechseln, oder die Telefonleitung mit der Gasleitung. Nicht auszudenken, was da alles passieren kann.

Grundsätzlich vertraue ich den Jungs ja - bis bei uns letztens der Strom ausfiel. Nicht Schlag auf Fall und gleich im ganzen Haus, sondern nach und nach. Erst war mittags bei mir im Büro der Saft weg und zum guten Schluss ging gar nichts mehr. Sie hatten tatsächlich nicht aufgepasst und die Stromleitung getroffen. Dabei wollten sie eigentlich nur an den Wasser- und Gasleitungen arbeiten – wie sie uns vorher freundlich mitteilten.

Sollten sie die Leitungen verwechselt haben? Oder haben sie unser Stromkabel einfach nur übersehen?

Wie dem auch sei, nachdem sie unser Stromkabel getroffen hatten, waren wir von der Außenwelt abgeschnitten. Die Verbindung war unterbrochen. Ohne Strom kein Telefon. Und mit dem Telefon habe ich sowieso so meine Erfahrungen – aber das ist eine andere Geschichte –

Wir waren vom Stromnetz getrennt und damit auch ohne Verbindung zur Außenwelt.

Was waren wir froh, als abends endlich das Stromkabel wieder richtig verbunden war und damit auch die Trennung überwunden.

Was für die Versorgungsleitungen gilt, gilt auch für Menschen: Die müssen richtig miteinander verbunden sein.

Bei einer zertrennten Stromleitung sind wir daran interessiert, dass sie möglichst schnell und vor allen Dingen auch richtig wieder verbunden wird.

Aber weshalb nur ist uns Menschen das Trennende oft viel wichtiger als das Verbindende?

Weshalb definieren wir uns über das Trennende, über:

- Leistung

- Besitz

- Wissen

- Aussehen

- Beziehungen

- Begabungen, usw.

Vielleicht, weil wir uns voneinander abheben wollen? Wir wollen anders als der Andere sein. Wir wollen uns nicht vereinnahmen lassen.

Vielleicht wollen wir ja auch besser als der Andere sein? Wir wollen etwas darstellen, wollen uns, anderen und Gott etwas beweisen. Wir wollen auf etwas stolz sein können. Wir wollen auch das andere auf uns stolz sein können. Und würden wir nicht gerne am Ende unseres Lebens hören, wenn wir Gott dann gegenüberstehen: "Gut gemacht!"?

Sicher ist es auch ein gesellschaftlicher Trend, hin zum Anderssein, zum Individualismus, wie es so schön heißt.

Doch wir wollen uns nicht nur von anderen unterscheiden und uns von ihnen abheben, sondern zugleich wollen wir auch irgendwo hingehören und passen uns der jeweiligen Gruppe an, wo wir dazugehören wollen.

Selbst den Glauben definieren wir. Einfach Christ sein reicht nicht. Da schaut er noch ganz fröhlich, der "einfache" Christ. Doch es reicht nicht. Er muss ein:

- gläubiger,

- echter,

- bekehrter,

- wiedergeborener,

- bibeltreuer,

- praktizierender

Christ sein.

Und vielleicht würden wir noch das eine oder andere dazusetzen. Auf jedem Fall sollte der Christ "gläubig in unserem Sinne" sein.

Nicht nur wir definieren uns über die Unterschiede. Nicht nur wir passen uns den jeweiligen Gruppen an, wo wir dazu gehören wollen.

Das war ja auch das Problem der Galater. Sie definierten sich über die Unterschiede. Einfach Christ sein reichte ihnen nicht. Das mosaische Gesetz musste noch dazukommen.

Galater 3, Vers 26 bis Kapitel 4, Vers 7: Denn durch den Glauben an Jesus Christus seid ihr nun alle zu Kindern Gottes geworden. Ihr gehört zu Christus, weil ihr auf seinen Namen getauft seid. Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: in Christus seid ihr alle eins. Gehört ihr aber zu Christus, dann seid auch ihr Nachkommen Abrahams und habt Anspruch auf alles, was Gott ihm zugesagt hat.

Überlegt einmal: Solange jemand nicht über sein Erbe verfügen kann, weil er noch nicht volljährig ist, besteht zwischen ihm und einem Besitzlosen kein Unterschied, obwohl ihm als Erben schon alles gehört. Aber bis zu dem vom Vater festgesetzten Termin bestimmen sein Vormund und seine Vermögensverwalter über den Besitz. Genauso ging es auch uns. Wie Unmündige waren wir allen Mächten und Zwängen dieser Welt ausgeliefert , wurden wir von ihnen ausgebeutet und unterdrückt. Aber zu der von Gott festgesetzten Zeit sandte er seinen Sohn zu uns. Christus wurde wie wir als Mensch geboren und den Forderungen des Gesetzes unterstellt. Er sollte uns befreien, die wir Gefangene des Gesetzes waren, damit Gott uns als seine Kinder annehmen konnte.

Weil ihr nun seine Kinder seid, schenkte euch Gott seinen Heiligen Geist, denselben Geist, den auch der Sohn hat. Deshalb dürft ihr jetzt im Gebet zu Gott sagen: «Lieber Vater!» Ihr seid nicht länger Gefangene des Gesetzes, sondern Kinder Gottes. Und als Kinder Gottes seid ihr auch seine Erben, denen alles gehört, was Gott versprochen hat.

Paulus versucht mit diesen Versen zusammenzuführen, was zusammengehört. Er versucht die Christen wieder miteinander zu verbinden. Er sagt den Galatern, die sich über die Unterschiede definieren und von den anderen Christen abheben und überheblich und stolz ihre Leistungen und vor allem das Einhalten der Gesetze und Regeln präsentieren:

Hört auf damit Euch wie unmündige und unreife Babys zu benehmen! Hört auf damit Euch über etwas zu definieren: Was ihr tut oder habt oder wie ihr es tut. Begreift doch, dass ihr durch Christus definiert seid.

Deshalb beginnt Paulus im Vers 26 diesen Abschnitt mit einer Aussage, die fast ungeheuerlich klingt: Ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben in Christus Jesus. Paulus gebraucht hier sehr bewusst das Wort "Sohn" um unsere Stellung in Christus aufzuzeigen. Wenn wir an anderen Stellen im Neuen Testament davon lesen, dass wir durch den Glauben an Jesus Kinder Gottes geworden sind, ist genau das damit gemeint: Gott hat uns adoptiert und wir sind dem Sohn Gottes damit völlig gleichgestellt.

Das ist das, was Paulus den angefochtenen und zerrissenen Galatern ansagt, die sich wieder abmühen einen gnädigen Gott zu finden. Hört auf euch über das zu definieren, was ihr tut und begreift, dass Gott euch durch Christus definiert.

Deswegen ist auch jeder Zusatz zu dem Namen "Christ" nicht nur überflüssig, sondern auch Ausdruck des Misstrauens gegenüber das, was Jesus für uns tat. Christ kommt von Christus und das reicht. Ein Christ ist einer, der an Christus glaubt und das reicht!

Christus reicht zum Leben und zum Sterben. Christus hat unser Leben reich gemacht. Durch ihn wurden wir ihm gleichgestellt und wie er sind wir jetzt Söhne und Töchter des lebendigen Gottes. Das ist unsere Autorität und unsere Stellung in Christus. Die Bezeichnung "Christ" ist ein Ehrenname, ein Hoheitstitel, eine Auszeichnung und ein unverdientes Geschenk.

Der Glaube hat uns zu Söhnen Gottes gemacht. Und in der Taufe – fährt Paulus fort – haben wir uns zu diesen Glauben an Christus bekannt und uns damit deutlich und sichtbar zu Jesus gestellt.

Nicht die Taufe macht uns zu Söhnen Gottes, sondern der Glaube, schreibt Paulus. Die Taufe ist unser sichtbares Bekenntnis zu diesem Glauben an den Gekreuzigten und auferstandenen Herrn.

Durch Christus und durch nichts anderes werden Christen definiert.

Deshalb kommt Paulus mit dem 28. Vers zur logischen und radikalen Konsequenz des Evangeliums: In Christus sind die Unterschiede überwunden! Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid «einer» in Christus Jesus.

Dort wo wir Christsein allein durch Christus definieren, spielen unsere Unterschiede keine Rolle mehr. In Christus sind sie überwunden.

Dort wo Christus die Hauptrolle spielt, spielen unsere Unterschiede noch nicht einmal mehr eine Nebenrolle!

Aber immer, wenn wir Christsein durch Christus und definieren, werden unsere Unterschiede wieder abgrenzend, ausgrenzend und letztlich trennend wirken.

Was bei den Versorgungsleitungen einfach nicht geht und zu katastrophalen Ergebnissen führt, dass man die Gasleitung mit dem Stromkabel verbindet, das allein schafft Christus zwischen den Menschen.

Christus verbindet Menschen, die so unterschiedlich sind wie Gasleitung und Stromkabel. Der Glaube an Jesus überwindet unsere Unterschiede:

- die unterschiedlichen Nationalitäten: Juden und Griechen damals

- die unterschiedliche soziale Stellung: Sklaven und Freie damals

- die unterschiedlichen Geschlechter: Männer und Frauen

Normalerweise passt das nicht zusammen. Genauso wenig wie die Telefonleitung und die Wasserleitung. Das passt nicht zusammen. Das sind zwei völlig verschiedene Leitungen. Juden und Griechen, Menschen, die nach dem mosaischen Gesetz lebten und Menschen, die die Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Menschen, die auf Grund ihrer nationalen Herkunft als Juden sich als zum Volk Gottes gehörig verstanden und Menschen, die als unbeschnittene Heiden galten. Das passt nicht zusammen: Sklaven und Freie, Menschen, die Leibeigne anderer Menschen waren, wertlos, entrechtet, Verkaufsartikel auf den Supermärkten der Antike und Menschen, die über ihr Leben selbst bestimmen konnten. Das passt nicht zusammen. Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen, wie Loriot schon sagte. Das ist wie Gas und Strom.

Aber das ist die radikale Botschaft des Evangeliums: Das Christus Gas und Strom verbindet. Das der Glaube an Jesus alle Unterschiede zwischen Menschen überwinden kann. Damals wie heute!

In Christus sind die Unterschiede überwunden. In Christus gibt es kein ökumenisches Problem. Da ist es völlig nebensächlich, ob einer katholisch oder evangelisch ist. In Christus gibt es kein charismatisches Problem. Da ist es völlig nebensächlich, ob einer aufsteht und die Hände zum Beten hebt, oder die Hände faltet und sitzen bleibt. In Christus gibt es keinen Generationskonflikt. Da spielt weder die Jugend eine Rolle, noch zählt das Alter.

Bis Ende März wollen die Jungs von den Stadtwerken fertig sein und dann liegen hoffentlich alle Leitungen gut und richtig verbunden und für uns wieder unsichtbar unter der Straße. Aber sie sind da: Die unterschiedlichen Leitungen mit ganz verschiedenen Funktionen für Wasser, Gas, Strom und Telefon. Dienende Leitungen.

In Christus sind alle Unterschiede überwunden, ohne das sie aufgehoben werden. Wenn man die Straße aufreißt, sieht man die verschiedenen Leitungen. Der Glaube an Jesus verbindet unterschiedlichste Menschen: Männer und Frauen, Alte und Junge, Arme und Reiche, Charismatiker und Evangelikale, Deutsche und Juden, Akademiker und Sonderschüler, Familienväter und Singles, Manager und Sozialhilfeempfänger, Gesund und Kranke. Der Glaube an Jesus verbindet ohne die Unterschiede aufzuheben.

Wenn ein Mann anfängt an Jesus zu glauben, wird er durch den Glauben nicht zu einem geschlechtslosen Neutrum. Er bleibt ein Mann. Aber er muss sich nicht mehr über sein Mannsein definieren. Er muss nicht mehr beweisen, dass er ein Mann ist. Er ist Christ geworden. Und von und durch Christus definiert sich jetzt sein Mannsein.

Wenn ein Arbeitsloser anfängt an Jesus zu glauben, hat er durch den Glauben nicht von heute auf morgen einen Job. Er bleibt ein Arbeitsloser. Aber er ist muss sich nicht mehr über seine Arbeitslosigkeit definieren. Er ist Christ geworden. Und von und durch Christus definiert sich jetzt sein Wert.

Das ist die radikale Botschaft des Evangeliums. Das der Glaube an Jesus die Unterschiede zwischen Menschen überwindet, ohne sie aufzuheben. Das einer, der an Jesus glaubt sich nicht mehr über etwas definieren muss: Über sein Geschlecht, seine Herkunft, sein Alter, seine Gesundheit, sein Aussehen, seinen Beruf, seinen Familienstand, oder was auch immer, sondern das er durch Christus definiert ist.

Deshalb schreibt Paulus weiter – geht der Glaube an Jesus weit über das mosaische Gesetz hinaus. Das alt. Gesetz konnte uns den Spiegel vorhalten. Wir konnten erkennen, was wir falsch machen, aber es veränderte uns nicht. Wie Unmündige waren wir allen Mächten und Zwängen dieser Welt ausgeliefert, wurden wir von ihnen ausgebeutet und unterdrückt. Aber zu der von Gott festgesetzten Zeit sandte er seinen Sohn zu uns. Christus wurde wie wir als Mensch geboren und den Forderungen des Gesetzes unterstellt. Er sollte uns befreien, die wir Gefangene des Gesetzes waren, damit Gott uns als seine Kinder annehmen konnte.

Weder die Forderungen des Gesetzes, noch irgendwelche moralischen Verpflichtungen, ja selbst politische Ideologien oder auch die gewaltigen technischen Errungenschaften können unser Leben nicht grundlegend verändern. Nur Christus.

Christus hat uns befreit von allen Ansprüchen und Forderungen, die uns entmündigt haben, die uns immer nur deutlich machten, das wir nicht so leben, wie wir leben sollten, ohne uns die Kraft zu geben, so leben zu können, wie wir in Wahrheit leben möchten.

Nicht die Moral, nicht das Gesetz, nicht das Du sollst und Du musst verändert unser Leben, sondern nur der Glaube an Christus.

Nicht das Einhalten der Regeln macht uns zu Kindern Gottes, sondern das kindliche Vertrauen zu Gott, dass Gott in Christus alles für uns getan hat.

Hans Brandenburg merkt in der Wuppertaler Studienbibel zu diesen Versen an: Paulus liegt daran, daß die Leser seines Briefes ihren zentralen Irrtum erkennen. Jene Irrlehrer sagen: Erst durch das Halten der jüdischen Gesetze werdet ihr zu Vollchristen. Das Umgekehrte ist der Fall: Nicht das Gesetz führt über das Evangelium hinaus, sondern das Evangelium führt über das Gesetz hinaus! Der Gesetzesweg ist das Zeichen der Unreife, Jesus aber macht zu reifen Söhnen Gottes.

Deshalb ist jeder Zusatz zu dem Namen Christ Misstrauen gegenüber Christus und Rückfall in die Gesetzlichkeit, die uns unmündig vor Gott macht.

Ihr seid nicht länger Gefangene des Gesetzes, sondern Kinder Gottes. Und als Kinder Gottes seid ihr auch seine Erben, denen alles gehört, was Gott versprochen hat.

Wie gesagt: Ende März soll die Baustelle in unserer Straße wieder verschwunden sein und alle Leitungen richtig miteinander verbunden. Aber in unserem Leben und im Gemeindealltag bleibt die Baustelle. Es ist tatsächlich Arbeit, dass wir das auch leben, was Christus uns geschenkt hat: Die Überwindung unserer Unterschiede. Und es gehört Glaube dazu, Gas und Stromleitung miteinander zu verbinden.

Das ist spannend, nicht ungefährlich, aber tatsächlich möglich, wenn wir uns allein durch Christus definieren und - wenn wir alle gemeinsam daran arbeiten auf unserer Gemeindebaustelle hier in der Oelschlägerstraße!



Krefeld, den 20. Februar 2000
Pastor Siegfried Ochs



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