Warum lässt Gott das zu?

1983 stellte Udo Lindenberg in seinem Lied 'Kleiner Junge' die Frage: „Was ist mit Gott?“ im Angesicht von Leid, Elend und Krieg? Und er singt weiter: „Und Mutter sagt: Der hat den Himmel zugemacht, ist abgereist, ist ganz weit weg und kümmert sich 'n Dreck!“

„Es klingt wie ein Märchen, und trotzdem hat sich diese Geschichte im Jahre 1952 in New York zugetragen“, mit diesen Worten leitet der damals 78jährige Heinz Rühmann seinen Fernsehfilm 'Der Zug nach Manhattan ein.

Rühmann spielt in diesem Film den jüdischen Kantor Sternberger, der über Nacht seinen Glauben an Gott verloren hat. Die Nichte des Kantors lässt den Synagogendiener Rosen kommen. Rosen versucht zu helfen, doch Kantor Sternberger sagt nur: 'Schau dir die Tageszeitung an. Es gibt nichts Erfreuliches mehr auf der Welt. Nur Unterdrückung, Mord, Korruption, Hungersnöte und Kriege'.

Rosen spricht von der Allmacht und Unergründlichkeit Gottes, doch Sternberger sagt nur: 'Was ist das für ein Gott, der soviel Elend will?'

Schließlich rät der Synagogendiener  dem  Kantor,  den berühmten Rabbi Markus in New York City aufzusuchen.

Sternberger macht sich auf den Weg. Er muss den Zug Richtung Manhattan nehmen. Er fragt den symphatischen und freundlich aussehenden Bahnhofsbeamten nach seinem Zug und findet sich Minuten später im falschen Zug - Richtung Brooklyn - wieder.

Völlig irritiert eilt er durch den fast menschenleeren Zug und findet eine Frau, die sich gerade aus dem Fenster stürzen will.

Sternberger kann sie retten. Sie erzählt ihm, dass sie aus Utrecht kommt und das am 22. Dezember 1942 ihre ganze Familie ins KZ deportiert wurde. Die junge Frau weint vor sich hin und stöhnt: 'Ach Gott!'

'Gott', antwortet Sternberger, 'Gott, meine liebe junge Frau. Es gibt keinen Gott!'

Er bringt die Frau in ihre Wohnung und begibt sich wieder auf den Weg nach Hause. Dort macht er sich dann auf den Weg zum ortsansässigen Rabbi um sein Amt zur Verfügung zu stellen. Der Rabbi versucht alles, um Sternberger zum Bleiben zu bewegen. Doch wie kann ein Kantor in der Synagoge beten, wenn er nicht mehr an Gott glauben kann?

'Ich würde Gott nicht mehr erkennen', sagt Sternberger, 'selbst wenn ich ihn auf der Straße treffe!'

Der Rabbi zitiert ein altes Prophetenwort: 'Und du sollst ihn erkennen in den seltsamsten Kleidern und an den seltsamsten Orten'.

Das  Gespräch  geht  hin  und  her.  Der  junge  Rabbi verweist Sternberger letztendlich an den berühmten Rabbi Markus in New York City. So macht sich Sternberger zum 2.Mal auf den Weg. Und wieder trifft er im Bahnhof auf denselben symphatischen Beamten, der ihn wieder in den falschen Zug nach Brooklyn setzt. Wieder irrt Sternberger durch die fast menschenleeren Abteile und trifft auf einen jungen Mann aus Utrecht, der am 22. Dezember 1942 seine Familie ans KZ verloren hat.

Sternberger erinnert sich an die Begegnung mit der jungen Frau. Bei der nächsten Station steigen die beiden Männer aus und Sternberger bringt den Mann zu seiner Frau.

Kantor Sternberger ist nicht mehr wieder zu erkennen.

Er fährt zurück zu seinem Ausgangsbahnhof und sucht den freundlichen Beamten. Doch er trifft nur auf einen mürrischen Stationsvorsteher, der Sternberger versichert, dass er den ganzen Tag hier war und kein anderer Beamter Dienst getan hat.

Da erinnert sich der Kantor an das Prophetenwort: 'Und du sollst ihn erkennen in den seltsamsten Kleidern und an den seltsamsten Orten!'

Am Abend betet Kantor Sternberger vor der jüdischen Gemeinde.

Heinz Rühmann sagte einem Reporter zu diesem Film: „Verstehen Sie, daß ich diesen Film einfach machen mußte? Er ist ja heute noch viel aktueller als damals - 1952. Es gibt Kriege. Menschen verhungern. Kinder werden entführt. Und immer mehr Menschen  zweifeln  an Gott. Ich glaube!“

Günther Klempnauer, Mein Gott warum?, Seite 9 bis 17

Warum lässt Gott das zu? fragte am Donnerstag die Rheinische Post auf Seite 3. Warum dieses unsagbare Leid, diese unfassbare Tragödie? Warum?

Diese Frage - die Frage nach dem „Warum?“ - ist so alt wie die Menschheit.

Es ist nicht nur die Frage der Atheisten, der Zweifler und Skeptiker. Es ist nicht nur die Frage von Udo Lindenberg. Es ist  auch die Frage, der Christen. Es ist die Frage von Kantor Sternberger: „Was ist das für ein Gott, der soviel Elend will?“

Das Leid im eigenen Leben, das Leid und Unrecht im Leben der anderen, der grausame Terroranschlag von Dienstag wiederholt immer und immer wieder diese eine Frage: „Warum?“

Sicher, nicht jede Schreckensnachricht treibt uns die Tränen in die Augen und wird zum Schrei nach dem Warum und Weshalb! Und wenn wir ehrlich sind, dann sind wir sogar skandalsüchtig und immer auf der Suche nach neuen Sensationen. Das ist nicht nur eine ernste Frage, sondern auch eine Ausrede. Mit solch einem Verweis auf das Leid in der   Welt hat man schon so manchen hartnäckigen Christen zum Schweigen bringen können.

Doch einerlei, ob wirklich betroffen, oder als Ausrede benutzt, die Frage „Warum lässt Gott das zu?“ erweist sich als Glaubenshindernis Nr. 1.

In  einer  Umfrage  erklärten  43% das Leidproblem als Ursache für ihren Atheismus. Dorothee Sölle sagte es so: „Wie man nach Auschwitz den Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, dass weiß ich auch nicht!“

Und an Hauswänden kann man lesen: „Gott lebt! Aber er hat sich entschieden, ein weniger anspruchsvolles Projekt in Angriff zu nehmen.“

Wo war denn Gott am Dienstag in NewYork und in Washington?

Entweder muss Gott sich zur Ruhe gesetzt haben, oder schwerhörig sein, altersschwach oder ein Tyrann, oder aber gar nicht existierend, wenn er so etwas zulässt!

Drei verschiedene Antworten zwingen sich dem denkenden Menschen unserer Tage scheinbar auf.

Möglichkeit 1: Gott ist zwar allmächtig, aber nicht gut! Er ist Herr der Welt, aber ein grausamer und sadistischer Diktator.

Möglichkeit 2: Gott ist zwar gut, aber nicht allmächtig. Gott ist ein ausrangierter alter Opa mit weißem Bart, auf einer Parkbank sitzend, altersschwach und ohnmächtig.

Möglichkeit 3: Gott ist tot. Es hat ihn nie gegeben.  Wir  haben  ihn uns nur eingeredet!

Erstaunlich: Jedes Mal, wenn wieder ein Skandal die Welt erschüttert, Menschen leiden, oder man selbst leidet - dann holt man Gott aus dem Schrank der Vergessenheit hervor und schiebt ihm die Schuld voll und  ganz  in  die Schuhe. Dann ist er wieder wer: Der Schuldige, der Verantwortliche.

Seltsam - gerade die Frage, die ihn - den allmächtigen Gott, auslöschen soll, zwingt zur Auseinandersetzung mit ihm. Kaum ist vom Leid die Rede, schon wird von Gott gesprochen - so auch in der Bildzeitung vom Mittwoch: „Großer Gott, steh uns bei!“

Es scheint fast so, als wenn Gott zum Leid gehört, wie ein Ei zum anderen.

Im Stern konnte man vor einigen Jahren gleich auf Seite 3 lesen: „Mein ganz persönliches Verhältnis zum lieben Gott ist nie stabil gewesen. Mit 13 brannte in mir ein religiöses Feuer, Pastor wollte ich so sehnlich werden wie andere Lokomotivführer. Mit 16 war ich auf dem atheistischen Trip, war über alles Zweifeln erhaben in der Gewissheit, dass es ihn nicht gibt. Nicht geben kann. Schloss denn nicht Auschwitz die Existenz eines gerechten Gottes aus? Waren denn nicht all die Kriege und Hungersnöte Beweis genug, dass niemand über den Wolken saß, der seine Hand schützend über die Unschuldigen hielt? Würde ein wirklich Allmächtiger nicht verhindert haben, dass der Mensch, sein Ebenbild, sich so weit von ihm entfernen konnte?“

Soweit ein Auszug aus dem Artikel von Sternredakteur Klaus Liedtke.

So logisch und richtig sich das alles anhört, steckt nicht doch ein Denkfehler darin?

Laut Bibel schuf Gott den Menschen als vollkommenes Wesen. Der Mensch wurde nicht als böses Wesen geschaffen. Er hatte aber die Fähigkeit, Gott zu gehorchen,  oder  ihm  den Rücken zu kehren. Hätte der Mensch Gott gehorcht, so würde es die Frage nach dem Warum und dem Leid erst gar nicht geben.

Gottes Plan war es, dass der Mensch ein endloses Leben in der Gemeinschaft mit ihm und seiner Schöpfung führen sollte. Doch der erste Mensch rebellierte gegen Gott und jeder von uns hat mitgebrüllt: „Alle denken nur an sich, nur ich denk an mich!“

Nicht Gott hat sich von uns losgesagt, sondern wir haben Gott zum alten Eisen geschmissen und uns von ihm emanzipiert und spielen uns als allmächtige Menschen auf! Damit gleichen wir einem Menschen, der sich bewusst einem Intercity in die Quere stellt und das ganze dann Selbstverwirklichung nennt.

Sicher, man kann wie Sternredakteur Liedtke einwenden: „Warum schuf Gott den Menschen nicht so, dass er nicht sündigen konnte?“

Für Gott wäre das kein Problem gewesen. Und es hätte ihm viel Leid und Golgatha erspart. Aber dann wären wir keine Menschen, sondern Maschinen, Roboter, die im Chor Halleluja singen würden.

Wie würde Ihnen das gefallen, mit einer sprechenden Puppe verheiratet zu sein? Sie drücken jeden Morgen auf einen bestimmten Knopf und monoton erklingt: „Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich!“ Es  würde

keine hitzigen Worte mehr geben. Keinen Streit und keine Wutausbrüche. Aber es würde auch keine Liebe geben. Die Liebe ist freiwillig. Gott hätte uns als Roboter erschaffen können. Aber er wollte Menschen, die sich freiwillig für oder gegen ihn entscheiden können, Menschen, die sich freiwillig für das Gute oder das Böse entscheiden können. Dies müssen wir als Gegebenheit akzeptieren.

Sicher, man kann weiter wie Sternredakteur Liedtke einwenden: „Weshalb verhindert Gott nicht, dass der Mensch sich so weit von ihm entfernt?“

Würde Gott heute das Unrecht in der Welt ausmerzen, dann würde er es vollkommen und vollständig tun. Doch wir wollen, dass er nur den Terror ausmerzt, ohne uns zu nahe zu treten. Wir wollen, dass er die Hungersnöte abwendet, ohne uns dabei die Taschen zu leeren.

Wenn Gott anordnen würde, dass heute gegen Mitternacht alles Unrecht und alles Übel im gesamten Universum weggeräumt werden soll - wer von uns wäre nach Mitternacht noch da?

Gott, sei Dank hat Gott die Produktion Mensch nicht eingestellt. Sonst wäre die Erde menschenleer, ein Planet der Affen.

In seinem Buch 'Warum lässt Gott das Gute zu?' dreht John Gerstner den Spieß um, und fragt: „Mit welchem Recht können Menschen, denen Gott eigentlich völlig gleichgültig ist, von diesem heiligen Gott Gutes fordern? Wie kann es im Leben eines Atheisten oder eines Menschen, dem Gott gleichgültig ist, überhaupt noch Freude und Schönheit geben?“

Verstehen wir? Die Frage müsste nicht lauten „Wie  kann Gott das Leid zulassen?“, sondern „Wie kann Gott es zulassen, dass es noch Gutes und Schönes gibt?“

Doch das Gute und Schöne, Frieden und Freiheit, Arbeit und Gesundheit, Begabung und Freunde werden als normal und natürlich angenommen. Das hat man selbst vollbracht. Dafür hat man selbst geschwitzt. Doch kaum kommt das Leid über die Schwelle des eigenen Lebens, da wird Gott aus der Ecke des Vergessens hervorgekramt und zum Lückenbüßer ernannt. Kaum flimmert ein Skandal über den Bildschirm und eine Umweltkatastrophe kündigt sich an, da wird Gott hervorgeholt und unschuldig schuldig gemacht.

Dabei ist er in Christus schon längst als Unschuldiger schuldig gesprochen worden. Damals am Kreuz von Golgatha. Weil der Gott der Bibel alles andere als ein Drückeberger-Gott ist, hat er in Christus einen Ausweg aus unserem Dilemma geschafft.

Ein Gott, der a la Udo Lindenberg abgereist ist, ganz weit weg ist und sich einen Dreck um uns kümmert, so ein Gott kann mir gestohlen bleiben. Mit so einem Drückeberger-Gott will ich nichts zu tun haben!

Doch der Gott der Bibel hat sich nicht abgesetzt, sondern in eine Krippe gesetzt, hat nicht die Arme verschränkt und zugeschaut, sondern sich ans Kreuz gehängt und geblutet vor Liebesschmerz.

„So sehr hat Gott diese Welt geliebt“ - schreibt Johannes – „das er seinen einzigen Sohn gab, auf das alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben!“

Gott hat sich vor dem Leid nicht gedrückt. Der saß nicht untätig auf einer Bank und zählte die Sterne, sondern er packte das Übel bei der Wurzel. Und diese Wurzel, die letzte und  wirkliche  Ursache  für  alles Leid dieser Welt, für jede Schreckensnachricht und jede Katastrophe ist die Emanzipation des Menschen von Gott, ist unser Egoismus, Sünde genannt.

Sünde bedeutet Zielverfehlung. Gottes Plan mit der Erschaffung von uns Menschen war, das wir mit ihm leben. Dieses Ziel haben wir verfehlt, indem wir uns von Gott losgesagt haben. Und weil wir uns von Gott gelöst haben, gottlos-gelöst – egoistisch und selbstherrlich - leben, deshalb gibt es Mord und Totschlag unter uns, Krieg und Hunger, das Leid in der Welt, die Schreckensmeldung, von der jetzt jeder spricht.

Durch Jesus - den Mann vom Kreuz - hat Gott alle Schuld dieser Welt, die je begangen wurde und noch begangen wird, sühnen lassen.

Der Unschuldige für die Schuldigen. Der Gerechte für die Ungerechten, Gott an Deiner und meiner Stelle! Jesus - war Gottes Vergeltungsschlag für unsere Sünde. Und deshalb – und nicht nur deshalb – ist jeder menschlich noch so verständliche Vergeltungsschlag der falsche Weg in eine nicht endende Gewaltspirale.

In dem Schrei Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ist alles Leid dieser Welt zusammengefasst. Im Kreuz von Golgatha sind alle Kreuze dieser Welt enthalten. In diesem Schrei Jesu ist auch das unfassbare Leid von NewYork und Washington enthalten.

Wer das Leid dieser Welt begreifen will, der kommt an Golgatha nicht vorbei. Und wer die Welt menschlicher und friedlicher machen will, der muss sich dem lebendigen Gott stellen und damit zugleich auch seiner eigenen Schuld und Sünde.

Der darf vor Golgatha nicht schlapp machen, denn dort wurde unsere Schuld angenagelt, dort wurde das Leid dieser Welt getragen, damit wir einen Ort haben, wo wir mit unserer Trauer und Angst, mit unserem Leid und mit unserer Schuld und auch mit unserer Wut und der Schuld der anderen hinkönnen. Wer Golgatha persönlich nimmt, wer Jesus Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen ernst nimmt, der kann aufatmen und durchatmen, der ist befreit und aufgerufen zum christusgemäßen Handeln und der ist wirklich und für alle Zeit geborgen.

Die Erschütterung, die wir alle spüren ist ja nicht nur die Trauer über das Unfassbare, die Angst vor dem ersten Krieg des 21. Jahrhunderts und die Wut über diesen menschverachtenden Terroranschlag, es ist ja auch die Erschütterung unserer Lebensfundamente und deshalb eben auch die Frage nach Gott? Die Frage: Wer denn unser Gott ist? Geld und Macht oder Jesus von Nazareth?

Mitten im Zerstörungslager von Auschwitz, in der Zelle 21 von Block 11 – dem so genannten Todesblock - kratzte ein Unbekannter zwei Christus-Bilder mit seinen Fingernägeln in die Wand. Diese Bilder wurden Ende 1944 oder Anfang 1945 erstellt und von den Nazis nicht entdeckt.

Diese Bilder sind wie ein Licht mitten in dieser Finsternis von Auschwitz und sie sind ein Bekenntnis angesichts des unsagbaren Leidens. Sie loben den Gott, der dennoch und trotzdem alles so herrlich regieret. Sie zeigen die Hoffnung und den Glauben dieses unbekannten Todgeweihten: Das Christus sein Leben ist, auch wenn er sterben wird. Und sie laden uns ein – angesichts unserer eigenen Erschütterung, und Bestürzung, unserer Trauer und Angst, dem zu glauben, der gesagt hat, dass er das Leben ist und ihm zu vertrauen der uns so sehr liebt, dass er sein Leben aus lauter Liebe für uns hingab, damit wir leben können, auch wenn es in dieser Welt drunter und drüber gehen sollte.



Krefeld, den 14. September 2001
Pastor Siegfried Ochs



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