Platz schaffen für den Heiland

Walter Bulling war gerade neun Jahre alt geworden und ging in die zweite Grundschulklasse, obwohl er eigentlich in der vierten hätte sein sollen. Er war groß und unbeholfen, langsam in seinen Bewegungen und im Denken, aber seine Klassenkameraden mochten ihn. Er war stets hilfsbereit, gutmütig und heiter und der geborene Beschützer der Jüngeren. Eigentlich wäre Walter im Krippenspiel gern ein Schäfer mit einer Flöte gewesen, aber Fräulein Schmitt hatte ihm eine wichtigere Rolle zugedacht.

Der Wirt hatte schließlich nur wenige Zeilen zu sprechen - so überlegte sie sich -, und Walters Größe würde der Weigerung, Joseph und Maria zu beherbergen, mehr Nachdruck verleihen.

So versammelte sich wie gewohnt die zahlreiche Zuhörerschaft zu der alljährlichen Aufführung der Weihnachtsgeschichte mit Hirtenstäben und Krippe, Bärten, Kronen, Heiligenscheinen und einer ganzen Bühne voll heller Kinderstimmen.

Doch weder auf der Bühne noch im Zuschauerraum gab es jemanden, der vom Zauber dieses Abends mehr gefangen war als Walter Bulling. Es kam der Augenblick, wo Joseph auftrat und Maria behutsam vor die Herberge führte. Joseph pochte laut an die Holztür, die man in die gemalte Kulisse eingesetzt hatte. Walter als Wirt stand dahinter und wartete: “Was wollt ihr?” fragte er barsch und stieß die Tür heftig auf. “Wir suchen Unterkunft.” - “Sucht sie anderswo.” Walter blickte starr geradeaus, sprach aber mit kräftiger Stimme. “Die Herberge ist voll.” - “Herr, wir haben überall vergeblich gefragt. Wir kommen von weit her und sind sehr erschöpft.”

“In dieser Herberge gibt es keinen Platz für euch.” Walter blickte streng. “Bitte, lieber Wirt - das hier ist meine Frau Maria. Sie ist schwanger und braucht einen Platz zum Ausruhen. Ihr habt doch sicher ein Eckchen für sie. Sie ist so müde.”

Jetzt lockerte der Wirt zum erstenmal seine starre Haltung und schaute auf Maria herab. Dann folgte eine lange Pause, so lang, dass es für die Zuhörer schon ein bisschen peinlich wurde. “Nein! Schert euch fort!” flüsterte der Souffleur aus der Kulisse. “Nein!” wiederholte Walter automatisch. “Schert euch fort!”

Traurig legte Joseph den Arm um Maria, und Maria lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. So wollten sie ihren Weg fortsetzen. Aber der Wirt ging nicht wieder in seine Herberge zurück. Walter blieb auf der Schwelle stehen und blickte dem verlassenen Paar nach - mit offenem Mund, die Stirn sorgevoll gefurcht, und man sah deutlich, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Und plötzlich wurde dieses Krippenspiel anders als alle bisherigen.

“Bleib hier, Joseph”, rief Walter. “Bring Maria wieder her.” Walter Bullings Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. “Ihr könnt mein Zimmer haben.”

Manche Leute meinten, Walter habe das Spiel verdorben. Aber viele, viele andere hielten es für das weihnachtlichste aller Krippenspiele, die sie je gesehen hatten.

Dina Donohue, Kein Raum in der Herberge

aus „Die Hintertür von Bethlehem“ von Hans Steinacker, Seite 69 - 70

Ich liebe diese Geschichte, denn sie lässt Weihnachten ganz anders ausgehen, als wir es kennen – eben ohne Stall und Krippe, ohne Ochs und Esel - und bringt es dennoch auf den Punkt.

Im Weihnachtsevangelium des Lukas heißt es an dieser Stelle, Lukas 2, Vers 7 (Luther): Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Leider war Walter Bulling vor über 2000 Jahren nicht als Wirt in Bethlehem an der Tür, sondern einer, dessen Namen wir nicht kennen, aber dessen Herz so hart war, dass er die hochschwangere Frau in den Stall schickte. Damals stellte der Wirt sein Zimmer nicht zur Verfügung. Damals mussten Maria und Josef in den kalten stinkenden Stall. Damals räumte keiner das Bett für die Geburt des Gottessohnes. Damals musste Jesus mit einem Futtertrog Vorlieb nehmen.

Für den Heiland der Welt gab es keinen Platz in seiner Welt. So beginnt auch das Weihnachtsevangelium nach Johannes, Kapitel 1, Verse 10 bis 11 (Luther): Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Es gab damals keinen Platz für Jesus! Und heute – Weihnachten 2001?

Da sind wieder ganz andere Dinge wichtig, wichtiger als das Kind in der Krippe, der Heiland der Welt. Da gibt es andere und scheinbar viel wichtigere Schlagzeilen in den großen Illustrierten zur Weihnachtszeit:

- Focus: „2001 – Das Jahr, das niemand vergessen wird!“

- Spiegel: „Der Glaube der Ungläubigen: Welche Werte hat der Westen?“

- Stern: „Die neuen Zehn Gebote – Welche Werte heute wichtig sind“

Kein Raum in der Herberge, weder damals noch heute. Kein Walter Bulling weit und breit, der sein eigenes Zimmer zur Verfügung stellt! Wir sind mit uns selbst beschäftigt, mit dem was uns wichtig ist und was uns am 11. September fast genommen wäre.

Dennoch und trotzdem kommt Weihnachten gerade rechtzeitig – nach diesem Jahr, das niemand vergessen wird! Nach der letzten Bundestagssitzung – seit Jahrzehnten erstmals wieder an einem Samstag – um deutsche Soldaten für Afghanistan zu stellen. Nach diesen unheilvollen Nachrichten aus dem heiligen Land und bevor wir in 8 Tagen mit einer neuen Währung leben müssen.

Wo ist bei all diesen Nachrichten, bei all diesen Schlagzeilen noch Platz für den Heiland der Welt? Der Schöpfer kam in diese Welt und wir begreifen es nicht. Er kam als Mensch und wurde als Jude geboren, aber er wurde von uns nicht auf- und angenommen.

Wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Damals wie heute und da ist kein Platz für einen allmächtigen Gott, der so ohnmächtig, so schutzlos und so furchtbar armselig, so ganz ohne Macht und Glanz und Gloria, eben als Kind und tatsächlich auch noch von einer Frau geboren, zu uns kam.

Und weil wir keinen Raum für ihn haben, für den Heiland der Welt, für den fleischgewordenen, den menschgewordenen Gott, deshalb spielen wir uns selbst zu Gott auf und wollen Menschen züchten und müssen Kriege führen und bestimmen wann menschliches Leben beginnt und wann es damit zu Ende ist und wer es wert ist in unserem so wertvollen Land leben zu dürfen.

Nun will ich nicht schwarzweiß malen und politisch darf es schon gar nicht werden in dieser heiligen Nacht! Schließlich wollen wir Weihnachten feiern, in Frieden und Liebe und mit viel Gefühl und reich gefüllten Taschen. Die Händler – so konnte man lesen - sollen auch ganz zufrieden sein – trotz diesem Jahr!

Wir brauchen Weihnachten – vielleicht dringender als je zuvor - aber das ist eben mehr als Konsum und Kitsch, Schlittenfahrt und Tannenbaum – Weihnachten das ist ER, das ist sein Geburtstag, seine Ankunft in dieser Welt, die Geburt von Jesus Christus, dem Heiland der Welt. Galater 4, Verse 4 bis 5 (Luther): Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.

Deshalb ist Weihnachten auch ein fröhliches Fest. Es ist seine Geburtstagsfeier - die Geburtstagsfeier unseres Heilandes. Deshalb wurde dazu auch eingeladen. Aber es kamen weder der Wirt, noch eine Abordnung der Highsociety aus Jerusalem, es kamen keine Stars und Sternchen, es kamen keine Promis und Präsidenten, es waren nur Hirten ansprechbar in dieser Nacht – so Leute wie Walter Bulling, etwas unbeholfen und zurückgeblieben – es waren nur Hirten ansprechbar, in dieser ganz besonderen Nacht, Lukas 2, Vers 10 (Luther): Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

Das meint Weihnachten – und dafür ist alles andere eben nur die Zugabe - wie Puderzucker auf dem Kuchen, oder Mayonnaise auf den Pommes. Und deshalb gehen Weihnachten so viele leer aus, weil sie nur Puderzucker oder Mayonnaise essen, aber am eigentlichen - an Jesus - vorbeigehen. Ohne das Kind, ohne den Heiland Jesus Christus verkommt dieses Fest zur Konsumorgie und wir können uns nicht freuen, weil wir am Eigentlichen von Weihnachten – an Jesus - vorbei gehen!

Wir brauchen Weihnachten – vielleicht dringender als je zuvor – wir brauchen einen Heiland, damit unser Leben heil und ganz wird, denn da gibt es so viel Dunkelheit in uns und da ist auch kein guter Kern in uns zu finden. Aber eben genau deshalb wurde es ja Weihnachten, weil wir Menschen eben nicht gut – sondern abgrundtief böse sind, wie dieses Jahr - das niemand vergessen wird - uns gezeigt hat. Gott hätte in Jesus nicht Mensch werden müssen, wenn wir von Geburt an gut wären. Jesus hätte nicht für unsere Schuld sterben müssen, wenn wir nicht alle durch und durch verloren und abgrundtief böse sind.

Genau deshalb wurde es Weihnachten und wurde uns dieses Kind geboren, weil wir es ohne Jesus eben nicht schaffen, weil wir ohne den Heiland nicht heil werden können.

Wir brauchen Weihnachten – vielleicht dringender als je zuvor - und wir sollten Platz schaffen für den Heiland der Welt. Wir sollten ihm wie Walter Bulling unser Zimmer – unser Leben - zur Verfügung stellen.

Oder es so machen wie Ralf: Mit brennenden Augen starrte Ralf in das Schneetreiben hinaus und drückte seine heiße Stirn an die kühle Fensterscheibe.

Seit Tagen suchte er die Antwort auf eine schwere Frage. Von seinen Geschwistern hatte er wissen wollen, warum Weihnachten gefeiert wird, und sie hatten ihm kurz und bündig erklärt: „Weil Jesus Geburtstag hat.“ „Wenn Jesus Geburtstag hat, warum bekommen dann wir die Geschenke - und nicht er?“ Das war seine schwere Frage.

Dabei hatte er sich vorgestellt, dass an seinem nächsten Geburtstag alle seine Freunde die schönsten Geschenke auspackten - nur er stünde abseits mit leeren Händen. Wie traurig müsste er dann sein! Und Jesus?

Auf der ganzen Welt beschenken sich die Menschen gegenseitig, erraten heimliche Wünsche, verwirklichen Träume. Arme und Reiche, Junge und Alte, Kranke und Gesunde - alle sollen sich freuen. Und Jesus?

Ralf hatte überall herumgefragt, doch niemand konnte ihm erklären, warum Jesus nicht beschenkt wird, niemand hatte überhaupt an ein Geschenk für Jesus gedacht.

Nun wollte er ganz bestimmt nach einem passenden Geschenk suchen. Aber worüber würde sich Jesus freuen? Kaufen konnte er ihm nichts mehr, er hatte alles ausgegeben, um Geschenke für Eltern und Geschwister zu basteln.

Morgen war Heiliger Abend, Jesu Geburtstagsfeier, und er hatte immer noch kein Geschenk für ihn.

Während er grübelnd am Fenster stand, zündete plötzlich in ihm eine Idee, die ihn ganz glücklich machte. Er lachte laut auf, denn es war ja so einfach, Jesus eine Freude zu machen.

Endlich begann der Weihnachtsgottesdienst. Die Kirche war heimelig und warm, es duftete nach Kerzen und Tannengrün. Die vielen Menschen, die keine Geschenke für Jesus mitgebracht hatten, wollten doch wenigstens eine Stunde von ihm singen, wollten beten und das Evangelium von seiner Geburt hören, das die Engel über den Fluren von Bethlehem in die Nacht hinausgejubelt hatten:

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“

Kurz vor Schluss des Gottesdienstes gingen die schön geflochtenen Opferkörbe durch die Reihen. Die Jungbläser vom Posaunenchor sammelten das Opfer ein und trugen die Körbe zum Altar.

Auf diesen Augenblick hatte Ralf gewartet.

Flink rutschte er von seiner Bank, drückte sich an seinen Nachbarn vorbei, lief im Mittelgang bis zum Altar und stellte sich mitten hinein in einen Opferkorb und rief mit lauter und heller Stimme: „Ich habe kein Geld für Jesus, aber ich schenke ihm meine Arme und Beine, meinen Kopf, meine Stimme und mein Herz zu seinem Geburtstag!“

Ein Raunen ging durch die Menge, die Kinder sprangen von den Bänken auf, um besser sehen zu können. Alle spürten, dass Ralf etwas Wichtiges gemacht hatte. Pfarrer Heimer legte den Arm um ihn, rückte das Mikrofon näher und wandte sich an seine Gemeinde:

„Ralf hat uns allen heute geholfen, Weihnachten richtig zu feiern. Jesus kam auf diese Erde, um uns in Gottes Reich einzuladen. Es war für ihn ein Wagnis, Gottlose mit Gott zu versöhnen. Es hat ihm das Leben gekostet. Doch das war es ihm wert. Sein Sterben besiegte den Tod, seine Liebe den Hass, seine Ohnmacht die Macht.

Seitdem können Menschen zu Gott umkehren und ihr Leben neu mit Gott beginnen. Das alte Programm der Menschheit wurde von tiefem Erbarmen, grenzenloser Vergebung und ewiger Liebe überholt. Mit Jesus zusammen öffnen sich neue Wege, neue Horizonte, neue Ziele.

Verlag des Diakonissenmutterhauses Aidlingen

Wir brauchen Weihnachten – vielleicht dringender als je zuvor – wir brauchen einen Freund, der mit uns durch dick und dünn geht, was auch immer geschieht. Wir brauchen Jesus damit wir nicht allein in diese dunkle kalte Welt hinausmüssen. Wir sollten ihm wie Ralf unser Leben zur Verfügung stellen, damit es auch für uns wirklich Weihnachten wird.



Krefeld, den 24. Dezember 2001
Pastor Siegfried Ochs



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