Jesus setzt neue Maßstäbe

In der gestrigen Ausgabe der Rheinischen Post stieß ich im Magazin-Teil auf einen hochinteressanten und äußerst wichtigen Artikel: Zeitlos glücklich – Die Deutschen sind Weltmeister im Jammern. Meistens meckern sie über die VERGANGENHEIT und sorgen sich um die ZUKUNFT. Dieses Gedankenkarussell macht krank, sagen Forscher. Die Lösung aller Probleme liegt im JETZT.

Rheinische Post, Seite M8 vom 26. Februar 2005

Mit dieser scheinbar neuen Erkenntnis wurde das Buch „Jetzt“ von Eckhart Tolle zum weltweiten Bestseller, in 32 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft.

Wer allerdings seine Bibel kennt, weiß dass diese scheinbar „neue Erkenntnis“, im Jetzt und Hier zu leben, gar nicht so neu ist, sondern zu den guten alten Hausrezepten der Bibel gehört. So schreibt es nicht nur der Autor des Hebräerbriefes seinen Lesern ins Stammbuch: Hebräer 3, Vers 15 (Einheitsübersetzung): Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht - so hat es auch Jesus mit seinen Jüngern gemacht. Er wollte sie im Jetzt herausfordern, etwas Entscheidendes zu begreifen und wahrzunehmen. Aber die 12 hörten nicht zu, sondern waren in ihren Gedanken schon längst in der Zukunft und verpassten so den Moment der Gegenwart, in dem Jesus ihnen ein Geheimnis anvertraut.

Damit stehen uns die Jünger näher, als wir vielleicht ahnen. Denn das kennen wir doch auch, oder, dass Gott mit uns reden will, und wir sind gedanklich schon längst beim Mittagessen oder bei dem einen oder anderen Tagesordnungspunkt der heutigen Gemeindeversammlung.

Was uns heutige Mediziner als große neue Erkenntnis verkaufen - „Wenn wir ständig das Jetzt verpassen, dann verpassen wir unser Leben“ - kann man auf den 2000 Jahre alten Seiten der Bibel bereits schwarz auf weiß nachlesen: Hebräer 3, Vers 15 (Einheitsübersetzung): Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht!

Markus 9, Verse 30 bis 37 (Einheitsübersetzung): Sie gingen von dort weg und zogen durch Galiläa. Er wollte aber nicht, daß jemand davon erfuhr; denn er wollte seine Jünger über etwas belehren. Er sagte zu ihnen: Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert, und sie werden ihn töten; doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen. Aber sie verstanden den Sinn seiner Worte nicht, scheuten sich jedoch, ihn zu fragen.

Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr unterwegs gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer (von ihnen) der Größte sei. Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.

Bereits zum zweiten Mal vertraut Jesus seinen zwölf Jüngern sein Geheimnis an. Er weiht sie ein in das Mysterium seines bevorstehenden Kreuzestodes und seiner Auferstehung.

Insgesamt dreimal vertraut er sich so seinen Jüngern an:

- In Cäsera Philippi : Markus 8, Vers 31

- In Galiläa : Markus 9, Vers 31

- Auf dem Weg nach Jerusalem : Markus 10, Vers 33 bis 34

Doch jedes Mal verstehen sie ihn nicht, hören scheinbar überhaupt nicht richtig zu und wagen es auch nicht, ihren Freund und Meister nach der Bedeutung dieser geheimnisvollen Worte zu fragen.

Beim ersten Mal versucht Petrus noch energisch Jesus davon abzubringen. Beim zweiten Mal diskutieren sie anschließend, welche Rolle sie im anbrechenden Reich Gottes spielen werden, wer von ihnen zum Außenminister und wer zum Innenminister ernannt wird, wer für die Finanzen zuständig sein und wem die Aufsicht über das Militär übertragen wird. Beim dritten Mal wird es auch um diese Frage gehen. Allerdings wird sie dann so direkt nur noch von Jakobus und Johannes gestellt werden. Sie wollen sich schon einmal die besten Plätze sichern, der eine links und der andere rechts von Jesus.

Niemand sonst – außer diesen Zwölfen – wird von Jesus in das größte Geheimnis aller Zeiten eingeweiht. Und sie hören nicht zu. Sie begreifen nichts. Das wollen sie nicht hören. Das passt nicht in ihre Vorstellungswelt: Ein leidender Messias, ein sterbender Christus, ihr Freund zwischen Himmel und Erde.

Was Jesus in diesen Momenten wohl gefühlt haben muss?

Wisst Ihr, wie es ist, wenn man sich jemanden anvertraut, einem anderen ein Geheimnis offenbart, seinem Herzen Luft macht und einem anderen Menschen zitternd, unsicher, mit brüchiger Stimme etwas anvertraut, was bisher niemand ahnte, sich niemand vorstellen konnte und was einen wie sonst nichts auf dieser Welt bewegt und umtreibt?

Kennt Ihr dieses Gefühl?

Und wisst ihr, wie es ist, wenn man sich einem anderen so offenbart und dabei genau spürt: Der versteht mich nicht, der weiß nicht, was ich meine, der ist mit seinen Gedanken schon ganz wo anders, der hört nicht zu, der ist nicht im Jetzt!

Dreimal muss Jesus es so erleben. Vor seinem Kreuzgang offenbart er sich seinen Freunden, seinen zwölf Jüngern, niemandem sonst! Sie will er mit hineinnehmen in sein Geheimnis, in das Mysterium von Tod und Auferstehung. Sie sollen danach ja seine Botschaft weitertragen. Nach Ostern sollen sie dieses Geheimnis öffentlich machen und in aller Welt davon reden, dass seit Karfreitag keiner mehr an seiner Schuld ersticken muss, weil Christus unsere Schuld ans Kreuz getragen hat.

Seit damals gibt es keine hoffnungslosen Fälle mehr. Durch Jesus können aus den Sackgassen unseres Lebens tatsächlich gehbare Wege werden. Das werden die Jünger Jesu – die hier und jetzt – so erbärmlich versagen, nicht einmal richtig zuhören und gedanklich schon bei der Wahl des Schönsten und des Größten sind, nach Ostern und Pfingsten unaufhörlich und unüberhörbar in aller Welt lautstark verkündigen!

Das ist eine mutmachende Botschaft für entmutigte Nachfolger!

Wenn Jesus seine Zwölf von damals bei ihren absolut verhängnisvollen Reaktionen auf die dreimalige Offenbarung seines Kreuzestodes nicht in die Wüste schickte, wird er auch mit uns heutigen Jüngern fertig und wird uns dabei helfen, unser Versagen zu überwinden, damit wir zu den Menschen werden, die Jesus sich mit uns gedacht hat.

Ich entdecke in diesen Versen: Jesus kann Versager gebrauchen! Christen, die nicht zuhören, die sich selbst für den Nabel der Welt halten und darüber sogar noch miteinander streiten, wer denn von ihnen der Größte, der Schönste, der Beste und der Wichtigste sei.

Jeder Manager hätte danach seine Mitarbeiter gefeuert, jeder Regierungschef seine Berater abgesetzt, und wir hätten unseren Freunden garantiert den Laufpass gegeben.

Jesus reagiert wieder einmal ganz anders: Er kann solche katastrophalen Versager gebrauchen, die es nicht einmal schaffen, ein Geheimnis aufzunehmen.

Dass Jesus seine Zwölf danach immer noch weiter mit sich nimmt, unterstreicht, dass es für Gott tatsächlich keine hoffnungslosen Fälle gibt, weder im engen Jüngerkreis noch in der Gemeinde, weder in der Gesellschaft noch auf den Straßen der Welt.

Diese gute Nachricht muss unters Volk! Das haben wir Christen weiterzusagen, damit sich solche Anzeigen, wie die gestrige nicht wiederholen:

Ingo hat sein Leben abgeschlossen. Wir verstehen seine kategorische Entscheidung nicht. Sie passt nicht zu ihm, wie wir ihn gekannt und erlebt haben – lebensfroh und stark. „In der Ruhe liegt die Kraft“ war das geflügelte Wort, mit dem er jeglicher Herausforderung begegnete. Wir dachten, dies sei sein Lebensmotto.

Niemandem hat er die Chance eingeräumt, ihn vor diesem fatalen Schritt zu bewahren. Wir wünschten, er hätte sich hier mit uns – seiner Familie und seinen Freunden – mehr Zeit gegeben.

Ohnmächtig stehen wir vor seiner Entscheidung und ihren Konsequenzen. Wir können sie nicht mehr rückgängig machen.“

Westdeutsche Zeitung / Rheinische Post vom 26. Februar 2005

Mit 21 Jahren hat Ingo am 19. Januar diesen Jahres seinem Leben ein Ende gesetzt und anscheinend weiß keiner, warum.

Deshalb dürfen wir Christen nicht schweigen. Deshalb dürfen wir die Hoffnung, von der wir leben, nicht für uns behalten. Wir müssen sie weitertragen, sie unters Volk bringen, zu den Menschen, zu Leuten wie Ingo, die keinen Ausweg mehr sehen, und ihnen sagen: „Du, es gibt tatsächlich Hoffnung für Dich!“

Sicher, es geht nicht darum, dass wir jetzt wie aufgescheuchte Hühner ziel- und planlos durch die Gegend rennen und schnatternd von der Hoffnung reden.

Sondern es geht darum, dass wir auf die Stimme unseres guten Hirten hören, dass wir verstehen, was Jesus jetzt und heute von uns will! Wie redet Jesus heute zu uns?

- durch sein Wort, wenn wir es lesen oder hören!

- durch die leise Stimme des heiligen Geistes, der uns einen Impuls gibt, dieses oder jenes zu tun, diesen oder jenen anzusprechen

- auch durch unsere Brüder und Schwestern

Am Freitag sagte mir jemand: „Als Du mich anriefst, wusste ich, dass Gott jetzt mit mir spricht!“ Dass ich diese Person aber anrief, hatte damit zu tun, dass ich diesen leisen Impuls in mir spürte, dieses leise Reden des heiligen Geistes und dann das tat, wovon ich den Eindruck hatte: Es ist das, was Gott jetzt von dir will!

Statt danach zu fragen, was Jesus von ihnen will – ja, was er überhaupt mit seinem Reden von Tod und Auferstehung eigentlich meint, lassen die Zwölf ihrem Ego freien Lauf und fragen sich, wer von ihnen wohl der Größte sei. Sie hören nicht zu. Sie sind nicht im Jetzt und bei Jesus, sondern träumen von ihrem Morgen und verpassen das Reden Gottes!

Die Frage nach der Größe ist in Palästina viel erörtert worden. Man fand eine Schrift, die unter anderem die Frage nach der Sitzordnung beim himmlischen Mahl erörtert und festlegt. Auch die Rabbiner haben diese Frage behandelt: Sie denken an sieben Abteilungen der Seligen und streiten darüber, welche dieser Abteilungen die erste und die vornehmste ist.

Und auch die Jünger Jesu diskutieren miteinander diese Frage nach Größe und Macht, nach Einfluss und Bedeutung.

Jesus nimmt ein Kind, stellt es in die Mitte der größenwahnsinnig gewordenen Jünger und klärt sie so über die im Reich Gottes herrschenden Größenverhältnisse auf.

Nicht Glanz und Gloria, sondern Kindsein können, nicht Macht und Einfluss, sondern die Ohnmacht und das Vertrauen eines Kindes zählen in den Augen Jesu.

Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.

Nicht das „Köpfe waschen“, sondern das „Füße waschen“, soll die Nachfolger Jesu auszeichnen. Christen folgen nun einmal nicht einem Superstar, sondern dem Mann vom Kreuz. An ihm haben wir Maß zu nehmen, was Größe heißt. Philipper 2, Verse 2 bis 5 (Einheitsübersetzung): Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.

Es ist immer verdächtig und für den Betreffenden selbst höchst gefährlich, wenn jemand in der Gemeinde bei allen Aufgaben dabei ist, bei denen er vorne stehen kann und von allen gesehen wird, aber beim Tische tragen, beim Spülen oder Aufräumen auf einmal dringend nach Hause muss.

Jesus war sich für den niedrigsten Tischdienst nicht zu schade. Es hilft uns als seinen Nachfolgern, wenn wir die Größe aufbringen, einander zu dienen.

Immer wieder musste Jesus seinen Jüngern den Zahn des Großseinwollens ziehen.

Weshalb ist das für Jesus so unannehmbar, dass seine Nachfolger groß dastehen wollen? Weil der Stolz und die eigene Selbstgerechtigkeit uns zu Gegnern Gottes macht! 1. Petrus 5, Vers 5 (Einheitsübersetzung): Gott tritt den Stolzen entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade.

Wer auf sich selbst und seine Leistungen stolz ist, hat Gott zum Gegner. Er erhebt sich nicht nur über seine Mitchristen. Er stellt sich selbst an die Stelle Gottes und übertritt das erste Gebot, 1. Mose 20, Vers 1 (Einheitsübersetzung): Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!

Deshalb kann es in der Nachfolge Christi niemals um Macht und Größe, um Einfluss und Bedeutsamkeit gehen. Es geht immer darum, dass wir einander mit unseren Gaben an unterschiedlichen Plätzen dienen und nicht voreinander glänzen.

Wer – wie das Kind hier – seinen Platz bei Jesus gefunden hat, muss nicht mehr bei anderen um seinen Platz kämpfen!

Jesus möchte uns von dem krankmachenden Stress und dem gemeinschaftszerstörenden Neid befreien, indem er uns als seine Nachfolger aus dem unheilvollem Vergleichen mit anderen herausführen will. Seit Jesus müssen wir uns nicht mehr durch unser Vergleichen mit anderen definieren, um so entweder schlechter abzuschneiden und uns minderwertig zu fühlen, oder besser abzuschneiden und überheblich zu werden.

Ich frage mich die ganze Zeit, wie Jesus seine Jünger wohl angeschaut hat:

- böse

- traurig

- ernst

- oder erschüttert?

Ich glaube, er hat sie liebevoll und offen angelächelt!

Wenn wir uns die Verse 33 bis 37 genau anschauen, stellen wir vier erstaunliche Handlungen Jesu fest:

1. Er befragt seine Jünger nach ihrem Gespräch

2. Er respektiert ihr Schweigen und poltert nicht los

3. Er setzt sich hin, während sie um ihn herum stehen

4. Er stellt ein Kind in ihre Mitte und nimmt es in den Arm

Wenn wir die Worte und Handlungen Jesu zusammen betrachten, können wir in die offenen Augen Jesu schauen, die seine Jünger ermutigen, den ihn zustehenden Platz einzunehmen ohne dabei andere übervorteilen zu müssen: „Ihr müsst nicht um euren Platz kämpfen! Ihr dürft gelassen im Heute leben!“ Amen.



Krefeld, den 27. Februar 2005
Pastor Siegfried Ochs



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